BVerfG, Beschluß vom 10. März 2016: Fall "Kachelmann" - Meinungsfreiheit schützt auch emotionalisierte Gegenäußerung ("Recht auf Gegenschlag") Drucken
BVerfG, Beschluß vom 10. März 2016 - 1 BvR 2844/13: Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als subjektive Freiheit des unmittelbaren Ausdrucks der menschlichen Persönlichkeit ein grundlegendes Menschenrecht. Sie umfaßt nicht zuletzt die Freiheit, die persönliche Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten in subjektiver Emotionalität in die Welt zu tragen. Dabei kann insbesondere bei Vorliegen eines unmittelbar vorangegangenen Angriffs auf die Ehre eine diesem Angriff entsprechende, ähnlich wirkende Erwiderung gerechtfertigt sein. Wer im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben hat, muß eine scharfe Reaktion auch dann hinnehmen, wenn sie das persönliche Ansehen mindert.

In den angegriffenen Entscheidungen haben die Gerichte zwar zutreffend einerseits das große Informationsinteresse der Öffentlichkeit und andererseits den Freispruch berücksichtigt, der dazu führt, daß die schweren Vorwürfe, die Gegenstand des Strafverfahrens waren, nicht unbegrenzt wiederholt werden dürfen. Auch haben sie berücksichtigt, wieweit die Äußerungen sich auf öffentliche Angelegenheiten bezogen.

Indem die Gerichte aber davon ausgingen, daß sich die Beschwerdeführerin auf eine sachliche Wiedergabe der wesentlichen Fakten zu beschränken habe, und hierfür auf das öffentliche Informationsinteresse abstellen, verkannten sie die durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG auch unabhängig von einem solchen Interesse geschützte Freiheit, ein Geschehen subjektiv und sogar emotionalisiert zu bewerten. Zugleich übersieht diese Sichtweise das öffentliche Interesse an einer Diskussion der Konsequenzen und Härten, die ein rechtsstaatliches Strafprozessrecht aus Sicht möglicher Opfer haben kann. Zu Gunsten der Beschwerdeführerin war in die Abwägung zudem einzustellen, daß sie sich in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu dem (noch nicht rechtskräftigen) Freispruch äußerte und lediglich wiederholte, was der Öffentlichkeit aufgrund der umfänglichen Berichterstattung zu dem Strafverfahren bereits bekannt war. Die Gerichte haben überdies das vorangegangene Verhalten des Klägers nicht in der gebotenen Weise berücksichtigt. Der Beschwerdeführerin steht ein „Recht auf Gegenschlag“ zu und dabei ist sie nicht auf eine sachliche, am Interview des Klägers orientierte Erwiderung beschränkt, weil auch der Kläger und seine Anwälte sich nicht sachlich, sondern gleichfalls in emotionalisierender Weise äußerten. Der Kläger, der auf diese Weise an die Öffentlichkeit trat, muß eine entsprechende Reaktion der Beschwerdeführerin hinnehmen.

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Zitierung: BVerfG, Beschluß der 3. Kammer des Ersten Senats vom 10. März 2016 - 1 BvR 2844/13 - Rn. (1-33),
http://www.bverfg.de/e/rk20160310_1bvr284413.html

Siehe auch die Pressemitteilung Nr. 78/2015 vom 29. Oktober 2015