EGMR: Rechtssache von Hannover gegen Deutschland Drucken
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Pressemitteilung des Kanzlers
Nichtamtliche Übersetzung

24.6.04

Kammerurteil in der Rechtssache von Hannover gegen Deutschland

(Pressemitteilung, veröffentlicht auf http://www.echr.coe.int/)

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat heute in der Rechtssache von Hannover gegen Deutschland (Beschwerde Nr. 59320/00) in öffentlicher Verhandlung das Urteil[1] verkündet.

Der Gerichtshof hat einstimmig entschieden, dass

  • Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privatlebens) der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt worden ist,
  • die Frage der Anwendung des Artikels 41 (gerechte Entschädigung) der Konvention noch nicht spruchreif ist. Die Entscheidung hierüber wird daher zurückgestellt, und die Regierungen sowie die Beschwerdeführerin sind aufgefordert, dem Gerichtshof schriftlich ihre entsprechenden Stellungnahmen zukommen zu lassen.

Das Urteil liegt in französischer Sprache (Originalfassung) und in englischer Sprache (Übersetzung) vor.

1. Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin Prinzessin Caroline von Hannover ist 1957 geboren und die älteste Tochter des Fürsten Rainier III von Monaco. Sie besitzt die Staatsangehörigkeit von Monaco und hat dort auch ihren Wohnsitz.

Seit Beginn der neunziger Jahre versucht Prinzessin Caroline von Hannover in verschiedenen Ländern Europas – oftmals unter Einschaltung der Gerichte – gegen die Boulevardpresse vorzugehen, um die Veröffentlichung von Fotografien aus ihrem Privatleben zu verhindern.

Sie hat wiederholt ohne Erfolg die deutschen Gerichte angerufen, damit diese jede weitere Veröffentlichung einer Reihe von Fotos untersagen, die in den neunziger Jahren in den deutschen Zeitschriften Bunte, Freizeit Revue und Neue Post veröffentlicht wurden. Sie begründete ihre Klage damit, dass durch diese Veröffentlichungen ihr Recht auf Achtung ihres Privatlebens und ihr Recht am eigenen Bild verletzt würden.

In einem Grundsatzurteil vom 15. Dezember 1999 hat das Bundesverfassungsgericht die Veröffentlichung bestimmter Fotos, auf denen die Beschwerdeführerin mit ihren Kindern zu sehen ist, untersagt, da Kinder in höherem Maße des Schutzes bedürften als Erwachsene.

Das Verfassungsgericht befand allerdings, dass die Beschwerdeführerin, die unzweifelhaft eine „absolute Person der Zeitgeschichte“ sei, die Veröffentlichung von Fotografien hinnehmen müsse, die sie in der Öffentlichkeit zeigen, selbst wenn die Bilder eher ihr Alltagsleben betreffen als die Erfüllung ihrer offiziellen Pflichten. Das Gericht verwies in diesem Zusammenhang auf die Pressefreiheit und auf das legitime Interesse der Öffentlichkeit zu erfahren, wie sich eine solche Persönlichkeit allgemein im öffentlichen Leben verhält.

2. Verfahren und Zusammensetzung des Gerichtshofs

Die Beschwerde wurde am 6. Juni 2000 eingereicht und am 8. Juli 2003 für zulässig erklärt.

Am 16. und 26. September 2003 ermächtigte der Kammerpräsident den Verband Deutscher Zeitschriftenverleger und die Hubert Burda Media Holding GmbH & Co.KG gemäß Artikel 61 § 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs als Drittbeteiligte eine schriftliche Stellungnahme einzureichen.

Am 6. November 2003 hat im Menschenrechtsgebäude in Straßburg eine öffentliche mündliche Verhandlung stattgefunden.

Das Urteil wurde dann von einer Kammer gefällt, die sich aus folgenden 7 Richtern zusammensetzte:

Ireneu Cabral Barreto (Portugiese), Präsident,
Georg Ress (Deutscher),
Lucius Caflisch (Schweizer)[2]
Riza Türmen (Türke),
Boštjan Zupancic (Slowene),
John Hedigan (Ire),
Kristaq Traja (Albaner), Richter,
sowie Vincent Berger, Sektionskanzler

3. Zusammenfassung des Urteils[3]

Beschwerde

Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Entscheidungen der deutschen Gerichte würden gegen ihr Recht auf Achtung ihres Privatlebens verstoßen; denn die Gerichte hätten ihr keinen angemessenen Schutz vor der Veröffentlichung von Fotos gewährt, die Sensationsreporter von ihr ohne ihr Wissen gemacht haben, weil sie aufgrund ihrer Herkunft unzweifelhaft eine „absolute Person der Zeitgeschichte“ sei. Ferner liege eine Verletzung ihres Rechts auf Achtung ihres Familienlebens vor. Die Beschwerdeführerin beruft sich dabei auf Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Entscheidung des Gerichtshofs

Der Gerichtshof hält als Erstes fest, dass einige Fotografien, auf denen die Beschwerdeführerin mit ihren Kindern zu sehen ist, sowie das Foto, das sie in Begleitung eines Schauspielers hinten im Hof eines Restaurants zeigt, nicht länger Gegenstand des Rechtsstreits sind. Der Bundesgerichtshof hat nämlich jede weitere Veröffentlichung dieser Fotos untersagt, da durch sie das Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Familienlebens verletzt werde.

Es steht außer Zweifel, dass die von verschiedenen deutschen Zeitschriften veröffentlichten Fotos, auf denen die Beschwerdeführerin allein oder mit anderen Personen im Rahmen ihres Alltagslebens zu sehen ist, ihr Privatleben berühren. Artikel 8 der Konvention ist daher in diesem Fall anwendbar. Es ist somit eine Abwägung zwischen dem Schutz des Privatlebens, auf den die Beschwerdeführerin Anspruch hat, und der durch Artikel 10 der Konvention garantierten Freiheit der Meinungsäußerung vorzunehmen.

Die Freiheit der Meinungsäußerung gilt zwar auch für die Veröffentlichung von Fotos, doch in diesem Bereich kommt dem Schutz des guten Rufs und der Rechte anderer besondere Bedeutung zu, da es hier nicht um die Verbreitung von „Ideen“ geht, sondern von Bildern, die sehr persönliche oder sogar intime Informationen über einen Menschen enthalten. Außerdem werden die in der Boulevardpresse veröffentlichten Fotos oftmals unter Bedingungen gemacht, die einer ständigen Belästigung gleichkommen und von der betroffenen Person als Eindringen in ihr Privatleben, wenn nicht sogar als Verfolgung empfunden werden.

Das entscheidende Kriterium für die Abwägung zwischen Schutz des Privatlebens einerseits und Freiheit der Meinungsäußerung andererseits besteht nach Ansicht des Gerichtshof darin, inwieweit die veröffentlichten Fotos zu einer Debatte beitragen, für die ein Allgemeininteresse geltend gemacht werden kann. Im vorliegenden Fall handelt es sich um Fotos aus dem Alltagsleben von Caroline von Hannover, um Fotos also, die sie bei rein privaten Tätigkeiten zeigen. Der Gerichtshof nimmt diesbezüglich zur Kenntnis, in welchem Zusammenhang die Fotos gemacht wurden, nämlich ohne Wissen der Beschwerdeführerin, ohne ihre Einwilligung und zuweilen auch heimlich. Diese Fotos können nicht als Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem öffentlichem Interesse angesehen werden, da die Beschwerdeführerin dabei kein öffentliches Amt ausübt und die strittigen Fotos und Artikel ausschließlich Einzelheiten ihres Privatlebens betreffen.

Ferner mag die Öffentlichkeit zwar ein Recht darauf haben, informiert zu werden, ein Recht, das sich unter besonderen Umständen auch auf das Privatleben von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens erstrecken kann, im vorliegenden Fall ist ein solches Recht jedoch nicht gegeben. Nach Auffassung des Gerichtshofs kann die Öffentlichkeit kein legitimes Interesse daran geltend machen zu erfahren, wo Caroline von Hannover sich aufhält und wie sie sich allgemein in ihrem Privatleben verhält, auch wenn sie sich an Orte begibt, die nicht immer als abgeschieden bezeichnet werden können, und auch wenn sie eine weithin bekannte Persönlichkeit ist. Und selbst wenn ein solches Interesse der Öffentlichkeit besteht, ebenso wie ein kommerzielles Interesse der Zeitschriften, die die Fotos und die Artikel veröffentlichen, so haben diese Interessen nach Ansicht des Gerichtshofs im vorliegenden Fall hinter dem Recht der Beschwerdeführerin auf wirksamen Schutz ihres Privatlebens zurückzutreten.

Der Gerichtshof weist darauf hin, welche grundlegende Bedeutung dem Schutz des Privatlebens für die Selbstentfaltung jedes Einzelnen zukommt, und hält fest, dass jede Person, auch wenn es sich um eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens handelt, die „legitime Erwartung“ hegen darf, dass ihr Privatleben geschützt und geachtet wird. Die von den innerstaatlichen Gerichten aufgestellten Kriterien zur Unterscheidung zwischen einer „absoluten“ Person der Zeitgeschichte und einer „relativen“ Person reichen nach Ansicht des Gerichtshofs nicht aus, um einen wirksamen Schutz des Privatlebens der Beschwerdeführerin zu gewährleisten, und es hätte anerkannt werden müssen, dass die Beschwerdeführerin unter den gegebenen Umständen die „legitime Erwartung“ geltend machen darf, dass ihr Privatleben geschützt wird.

Angesichts dessen gelangt der Gerichtshof, trotz des Ermessensspielraums des Staates auf diesem Gebiet, zu dem Schluss, dass die deutschen Gerichte die widerstreitenden Interessen nicht in gerechter Weise gegeneinander abgewogen haben. Somit befindet der Gerichtshof, dass Artikel 8 der Konvention verletzt worden ist und dass über den Beschwerdepunkt, den die Beschwerdeführerin in Bezug auf ihr Recht auf Achtung ihres Familienlebens vorgebracht hat, nicht entschieden zu werden braucht.

Die Richter Cabral Barretto und Zupanc(ic( haben jeweils eine zustimmende persönliche Meinung zum Ausdruck gebracht; diese persönlichen Meinungen sind dem Urteil beigefügt.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist 1959 in Straßburg von den Mitgliedsstaaten des Europarates gegründet worden, um über Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 zu urteilen. Die Zahl seiner Richter entspricht der Zahl der Vertragsstaaten der Konvention. Seit 1. November 1998 arbeitet er als ständig tagender Gerichtshof. In Kammern mit sieben Richtern oder in Ausnahmefällen in einer Großen Kammer mit siebzehn Richtern prüft er die Zulässigkeit und Begründetheit der bei ihm eingereichten Beschwerden. Die Vollstreckung seiner Urteile wird vom Ministerkomitee des Europarates überwacht. Nähere Informationen zum Gerichtshof und seiner Arbeit sind auf seiner Website zu finden.


[1] Gemäß Artikel 43 der Europäischen Menschenrechtskonvention kann jede Partei innerhalb von drei Monaten nach dem Datum des Urteils der Kammer in Ausnahmefällen die Verweisung der Rechts­sache an die Große Kammer (17 Mitglieder) des Gerichtshofs beantragen. Auf einen solchen Antrag hin prüft ein Ausschuss von fünf Richtern, ob die Rechtssache eine schwerwiegende Frage der Auslegung oder Anwendung der Konvention oder der Protokolle dazu oder eine schwerwiegende Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft. Ist dies der Fall, so entscheidet die Große Kammer die Sache durch ein endgültiges Urteil. Anderenfalls lehnt der Ausschuss den Antrag ab und das Urteil wird endgültig. Ansonsten wird das Urteil einer Kammer endgültig, wenn die genannte Frist von drei Monaten abgelaufen ist oder wenn die Parteien erklären, dass sie die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer nicht beantragen werden.

[2] Für Liechtenstein gewählt

[3] Diese Zusammenfassung wurde vom Kanzler erstellt und ist für den Gerichtshof nicht rechtsverbindlich.


Diese Seite ist vom 6. Juli 2004