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Kurzvortrag von Herrn Direktor Altendorf
„Zugang zu den Staatssicherheitsakten – Voraussetzung für eine Transformation in eine offene und demokratische Gesellschaft“

Nachwendediskussion

Der deutsch-deutsche Einigungsvertrag vom 31. August 1990 sieht vor, die Grundsätze aus dem DDR-Volkskammergesetz vom 24. August über die Stasi-Unterlagen umfassend zu berücksichtigen. Darin wurde die Öffnung der Unterlagen der Stasi zu bestimmten Zwecken vorausgesetzt und der Erwartung Ausdruck verliehen, dass die Voraussetzungen für die politische, historische und juristische Aufarbeitung geschaffen würden. Dabei sollte ein angemessener Ausgleich zwischen den Vorgaben des Datenschutzes sowie den Rechten der Betroffenen und dem Aufarbeitungsinteresse erreicht werden.

In der Frage der Öffnung der Stasi-Unterlagen konkretisiert sich ein Konflikt zwischen hochrangigen rechtstaatlichen Werten: das Recht der Öffentlichkeit und des Einzelnen auf Aufklärung einerseits und der Anspruch Einzelner auf Schutz ihres Persönlichkeitsrechts andererseits. Damals – und teilweise noch heute – bestanden daher grundsätzliche Bedenken gegen die Öffnung der Stasi-Unterlagen. Es wurde auch befürchtet, das Wissen über die Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes, vor allem die Aufdeckung von Verrat, könnte zu Mord und Totschlag oder zumindest zu einer schweren gesellschaftlichen Krise führen.

Zugleich bestand Einigkeit darüber, dass sich die Versäumnisse und Erfahrungen aus den Jahren nach der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland nicht wiederholen sollten. Hervorzuheben ist dabei vor allem der Gedanke einer zeitnahen Aufarbeitung, der zur Bewältigung des demokratischen Übergangs besonders wichtig ist.

Die nahezu zwei Jahre währende Debatte über den Umgang mit der Stasi-Hinterlassenschaft war außerordentlich kontrovers. Die Spannweite der dabei erhobenen Forderungen reichte von der Vernichtung der Unterlagen bis zu dem Vorschlag, sie vorbehaltlos offen zu legen. Die Konfliktlinie verlief – und verläuft noch heute – nicht entlang der Parteigrenzen, sondern quer durch die Parteien und Lager. Zu betonen ist dabei, dass den Anstoß für eine Öffnung der Akten ein Gesetz gab, das von der ersten frei gewählten DDR-Volkskammer beschlossen wurde, es sich also keineswegs um eine durch den „Westen“ veranlasste Aufarbeitung handelt.

Stasi-Unterlagen-Gesetz

Der gesamtdeutsche Gesetzgeber beantwortete die Frage des Umgangs mit den Stasi-Akten weder mit einer jahrzehntelangen grundsätzlichen Sperrung nach dem Vorbild des westdeutschen Bundesarchivgesetzes noch mit einer unbeschränkten Freigabe. Er löste das Problem mit einer kontrollierten Öffnung und Nutzung der Unterlagen für verschiedene Gesetzeszwecke. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz trat am im Dezember 1991 in Kraft. Der Gesetzgeber traf darin eine historische Entscheidung für die Öffnung der Akten zur historischen, politischen und juristischen Aufarbeitung und löste damit die Zusage aus dem Einigungsvertrag ein.

Nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz hat jeder Einzelne ohne Angabe von Gründen Anspruch auf persönliche Akteneinsicht. Er kann die Namen der Mitarbeiter, die nur mit Decknamen genannt werden, sowie der Denunzianten erfahren. Das Akteneinsichtsrecht ist jedoch auf den Zugang zu Informationen beschränkt, die ihn selbst betreffen.

Auskunftsrechte für staatliche und private Stellen bestehen zur Überprüfung von Personen für im Gesetz katalogartig aufgeführte Fälle. Die Mehrzahl der Überprüfungen ist aber nur bis 15 Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes rechtlich zulässig, diese Frist läuft also im Jahr 2006 ab.

Forschung, Medien und politische Bildung dürfen die Unterlagen mit differenzierten Einschränkungen für die politische und historische Aufarbeitung nutzen. Die maßgeblichen Bestimmungen unterscheiden streng zwischen drei Gruppen: Betroffenen, also Opfern, betroffenen Personen des öffentlichen Lebens, und Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes. Informationen zu Betroffenen können nur mit deren Einwilligung eingesehen werden; sind sie zugleich Personen der Zeitgeschichte, Amts- und Funktionsträger, ist eine Einwilligung unter bestimmten Voraussetzungen und nach Abwägung hinsichtlich derjenigen Informationen entbehrlich, die deren öffentliches Wirken betreffen. Informationen über Mitarbeiter sind – allerdings auch nur nach Abwägung – einsehbar. Ergänzt werden diese Zugangsrechte durch die eigene Forschungs- und Öffentlichkeitsarbeit der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen.

Rezeption des Stasi-Unterlagen-Gesetzes

Das Stasi-Unterlagen-Gesetz lässt sich naturgemäß nur schwer in die bundesrepublikanische Rechtstradition einfügen. 13 Jahre nach seinem In-Kraft-Treten scheinen aber die Intentionen des Gesetzgebers im Ergebnis in der öffentlichen Debatte, im politischen Raum und auf gerichtlicher Ebene grundsätzlich auf Zustimmung zu stoßen. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ist als Ausgleich der Spannungslage zwischen den öffentlichen und privaten Interessen grundsätzlich gelungen.

Sowohl das deutsche Bundesverfassungsgericht und das Bundesverwaltungsgericht erkennen ein nachhaltiges Aufarbeitungsinteresse als Grundlage für einen Eingriff in individuelle Schutzrechte an. Dieses öffentliche Interesse bestehe, so das Bundesverwaltungsgericht, trotz des Zeitablaufs auch heute noch. Die Gerichte betonen, dass die historische Erfahrung mit einer Diktatur und ihren Repressionsinstrumenten eine Anschauung darüber vermittle, welchen Gefahren die Freiheitsrechte der Bürger ausgesetzt sein können, wenn die Sicherungen eines freiheitlichen Rechtsstaats außer Kraft gesetzt sind. Das Bundesverwaltungsgericht scheint zudem keine Bedenken gegen die differenzierten Regelungen für Mitarbeiter und Betroffene, seien sie auch Personen des öffentlichen Lebens, bei den Zugangsrechten von Forschung und Medien zu haben (vgl. BVerfG vom 23.02.2000, Az. 1 BvR 1582/94, „Hallenser Liste“; BVerwG vom 23.07.2004, Az. 3 C 41/03, „Kohl II“).

Das Bundesverwaltungsgericht betont darüber hinaus grundsätzlich auch den Stellenwert der Aufarbeitung durch die Medien. Die Presse wirke an der öffentlichen Meinungsbildung mit und versehe so eine für die freiheitliche Demokratie überaus bedeutsame Funktion. Hieraus begründe sich zugleich das öffentliche Interesse an einer Versorgung der Presse mit Informationen (BVerwG a.a.O., „Kohl II“).

Dennoch werden, besonders für den Bereich der Verwendung der Unterlagen zur historischen und politischen Aufarbeitung, kontroverse Debatten über Auslegung und Anwendung des Gesetzes geführt.

Dies gilt zunächst für die Frage einer verfassungsrechtlichen Unterstützung der Zugangsansprüche von Medien und Forschung. Das Bundesverwaltungsgericht lehnt einen grundrechtlichen Zugangsanspruch für Forschung oder Medien ab. Art. 5 Abs. 1 S. 1 und 2 GG vermittelten keine Ansprüche, die sich auf nicht allgemein zugängliche Quellen bezögen (vgl. BVerwG vom 08.03.2002, Az. 3 C 46/01, „Kohl I“, und vom 23.07.2004, Az. 3 C 41/03, „Kohl II“). Umstritten ist auch das Ausmaß der Zugangsrechte für Medien und Forschung. Das Bundesverwaltungsgericht gibt für deren Zugang zu Stasi-Unterlagen nunmehr eine strenge Differenzierung zwischen der Aufarbeitung durch Forschung einerseits und durch Medien andererseits vor. Die maßgeblichen Vorschriften des Stasi-Unterlagen-Gesetzes sind verfassungskonform auszulegen. Medien haben keinen Zugang zu Unterlagen, wenn nicht zweifelsfrei feststeht, dass durch die Art der Datenerhebung durch den Staatssicherheitsdienst weder das Recht am gesprochenen Wort noch das Recht auf Privatsphäre verletzt wurde und die Informationen nicht aus Akten oder Dateien aus der alten Bundesrepublik stammen (BVerwG vom 23.07.2004, Az. 3 C 41/03, „Kohl II“).

Ausblick

Der DDR-Staatssicherheitsdienst bildete den Kernbereich des Macht- und Repressionsapparats der DDR, eingerichtet und unterhalten zur Aufrechterhaltung des totalitären Regimes. Die Geheimpolizei einer Diktatur verkörpert die moralisch verwerflichsten Aspekte von Rechtlosigkeit und Machtanmaßung. Zugleich ist ihr Tun weniger durchschaubar als das der Regierung oder der herrschenden Partei. Dies verleiht der Auseinandersetzung mit den Geheimdienstakten bei der Überwindung der Diktatur besondere Bedeutung.

Die Stasi-Unterlagen liefern konkrete Fakten, die die kritische Debatte über das System der SED-Diktatur und insbesondere über die Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes als „Schild und Schwert der Partei“ stützen. Auf dieser Grundlage kann eine zeitnahe öffentliche Auseinandersetzung mit Unrecht, Schuld und Missbrauch erfolgen. Nur so können letztlich auch die für eine gesellschaftliche Umwandlung notwendigen Rehabilitierungen ermöglicht und Elitenwechsel erleichtert werden. Zur Aufarbeitung gehört auch, unterschiedliches, auch widerständiges Verhalten angesichts von Zwangskonstellationen aufzuhellen.

Der Aufbau eines Rechtsstaats setzt das Wissen seiner Bürgerinnen und Bürger um das Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit voraus, auch das Wissen um vergangenes Unrecht. Dieses Wissen ist Garant für den Fortbestand der Demokratie. Die Stasi-Unterlagen können – trotz des Zeitablaufs seit dem Untergang des DDR-Systems – auch heute noch einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung einer politischen Kultur von Freiheit und Verantwortung leisten. Der Zugang zu ihnen setzt jedoch eine sorgfältige Abwägung zwischen dem öffentlichen Aufarbeitungsinteresse und dem Schutz des Persönlichkeitsrechts voraus. Nur wenn diese in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen, bleibt die Aufarbeitung des vergangenen Unrechtsregimes glaubwürdig und gesellschaftlich akzeptiert.